Heroische Mädchen in Film und Wirklichkeit
Anlässlich eines Hoffestes zum 40-jährigen Bestehen des Verkehrswesenseminars saß ich im Innenhof der TU Berlin. Die Veranstalter hofften auf die Dämmerung, ich darauf, dass der Film Beauty and the Bike anfing. Die Sonne nahm ab, die Kälte legte zu, endlich begann der Film, aber die Tonspur versagte. Also kaufte ich mir die DVD und schaute sie bei einer Tasse heißen Tee bis kurz nach Mitternacht an. Keine sechs Stunden später saß ich im Zug nach Bremen.
Die Filmstory erzählt den Perspektivenwechsel englischer Mädchen, die nach Bremen kommen und ihre Metamorphose zu radelnden Vorbildern, wenn sie nach Darlington zurückkehren, wo das alltägliche Radfahren etwa so bekannt sein soll wie das Kamelreiten in unseren Breiten. Tatsächlich zeigt der Film die Wirkung der Infrastruktur auf das Bewusstsein und bei der Wahl des rechten Verkehrsmittels.
Zu einem Home- &Country-Soundtrack wiederholt sich die Sequenz »Mädchen auf Fahrrad wiegt sich feierlich durch die Landschaft«. Da ich ein gesundes Misstrauen gegen Dokumentarfilme in Hinblick auf die zu besichtigende Dingwelt hege, setze ich mich gleich ab Hauptbahnhof unter dem Bremer Sprühregen aufs Rad und bin überrascht: Bremer sind durchaus kopenhagenisiert. Überall rollen Hollandradfahrer und kein Mensch denkt sich etwas dabei, mit dem Rad unterwegs zu sein, das heißt, es braucht keine Attitude, es fährt sich einfach so. Beeinflusst von den Filmbildern und einem schwer abzuschüttelnden Colville-Andersen-Blickformat sehe ich heroische Mädchen auf ihren Fahrrädern vorbeirauschen bis in das Ostertor/Steintorviertel hinein.
Kleine Streiche
In manch Berliner Café röhren die Tischnachbarn in die Welt wie Rentiere zur Brunft, ersatzweise in ihre mobilen Apparaturen. Die Gäste in einem Bremer Café reden eher wie in einer Selbsthilfegruppe. Mit einem intimen, gemeinen, extra großen Du werden am Nebentisch die Lebensthemen über die Zuckerdose gereicht. Das war schon beim letzten Mal so, als ich im Steintor in einem Café saß. Ich habe keine Ahnung, was mich mehr beim Schreiben stört.
Auch im Ostertor/Steintor hat man über Gentrifizierung genörgelt. Frisch von der polierten Berliner Mitte aus gesehen ist das Bremer »Viertel« ein gefühltes Nischenreservat. Konserviert sind nicht nur die störrischen Tabakdreher, insistierend brabbelnde Psychotiker, die schwülen, stinkenden Ausdünstungen an der Sielwallkreuzung oder der Obdachlose, der wie ein Clochard aus alten Filmen ins Bild trottet. Als ich mein Rad durch die Gassen schiebe, sind es noch die romantisch mit ihren Vorgärten verwachsenen Bremer Häuser. Wer immer diese Hütten heute bewohnt, zumindest die Sinnbilder einer Subkultur, kleine Streiche, die Piratenflagge neben der Kneipentür, die neuzeitlichen Malereien, Fresken, Murals, Graffitis an Wänden und Hauseingängen, die kollagenartige Plakatierungen, existieren.
Um ein paar norddeutsche Haifische einzufangen, die Sushi-Verkäuferin vor dem Sperrbezirk oder den Graffiti-Mann, der sich unappetitlich entleeren muss, wetze ich gegen die Dämmerung, gegen den sterbenden Akku meiner Kamera. Meist zwischen Grün und Zaun der Vorgärten sprießen dann die Fahrräder wie Disteln. Wieder Holländer haufenweise. Oder Rosträder und kostümierte Faschingsrahmen, Blumenräder, knallrot verliebte Drahtesel auf Party-, WG– und Familienabstellplätzen, Installationen mit Fracks und Rädern der letzten Jahrzehnte. Darunter: ein italienisch, quasierotisch gemufftes Modell.
Längst habe ich mich in das Bremer Steintor verliebt. Dabei hatte mich eine Freundin eindringlich vor der »heruntergekommenen Stadt« gewarnt. Einmal, im Findorff, entblößt eine Windböe unter dem Regen die Armut. Da wirken alle Baulücken besonders öd und ich sehe hintereinander: Imbiss, Spätkauf, Imbiss, Spätkauf. Für das Steintor lasse ich das aber nicht gelten. So begehen wir die Städte in unseren Projektionen. Die Freundin muss hier leben, ich galoppiere aus Gelegenheit hindurch, mein Lieblingsrad, einen Notizblock und die Zeit auf meiner Seite.
Wo ein Viertel aller Wege mit dem Rad zurückgelegt werden, hält sich der Autoverkehr in Maßen. Doch zum ersten Mal seit Jahren werde ich angehupt, wenn ich mit meinem Fahrrad auf der Straße fahre. Die nahe am Radweg gebauten Häuserreihen lassen nur eine eingeschränkte Sichtmöglichkeit zu. Besonders vor den von rechts aus den Seitenstraßen herausschießenden Fahrzeugen muss ich mich in Acht nehmen. Selbstverständlich wird die Busspur als die sichere Variante für den Stadtverkehr gelobt. Ich fahre auch gerne über Asphalt. Und bestimmt ist sie die billigste Variante. Aber ich empfinde Radwege als angenehm und sicher. Meistens übe ich mich darin, selbst nach den Abbiegern Ausschau zu halten. »Die sehen mich ja dann nicht« trägt den Beigeschmack einer kindlich-passiven Haltung, pflegt den »Wir-Die«-Kult, der den Austausch mit der Welt blockiert.
Irgendwo gibt es garantiert so ein metaphysisches Gesetz, nachdem sich der Austausch dann um so heftiger, letal ereignen muss. Ah, nein, das erfand ich wohl nur um der Pointe willen …
Parkhäuser in Bremen, Parkwächter für Berlin
Seit seiner Gründung 1979 in der Wohnung von Jan Tebbe ist Bremen die Wiege des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs. Am Hauptbahnhof betreibt der ADFC ein vorzeigbares Fahrradparkhaus. Geparkt werden kann für 70 Cent am Tag und 7 Euro im Monat. Für das Abschließen ist jeder selbst verantwortlich. Niemand kontrolliert, wer mit welchem Ross herausspaziert. Dafür ist die Kameraüberwachung mindestens so verlässlich wie die in der Londoner U-Bahn. Die Dame von der Radstation sagt mir, gelegentlich würde ein Dieb wie in den großen Ganovenfilmen versuchen, der Kamera zu enttanzen. Trotzdem bekommen alle ein schönes Porträt und dieses Porträt bekommt dann die Polizei.
Jeden zweiten Samstag sitzt jemand vor dem Parkhaus, um Fahrräder zu codieren. Von Mai bis September findet monatlich ein Fahrrad-Flohmarkt statt, zu dem der ADFC Besitzerpässe ausstellt. Auch die Flotte der Leihräder sieht sehr hübsch aus, besonders wenn ich an die Räder der Berlintouristen denke, die frank und frei um die Siegessäule herum das Fahrradfahren üben. Abseits der schönen Räder fristen natürlich noch die Gestänge der Deutschen Bahn mit dem Charm vergangener Science Fiction-Filme ihr Dasein. (Wer ist eigentlich für deren Design verantwortlich?)
Ich steige wieder aufs Rad, rolle unter dem Osterdeich an der Weser entlang und sage mir: So ein Fahrradhaus wie in Bremen kann sich Berlin vielleicht nicht leisten. Doch Not macht auch erfinderisch. Da fallen mir zum Beispiel die schaurigen Typen ein, die wir in Turin einmal kaum los wurden, die gegen ein Geld unbedingt das Auto bewachen wollten. Ich frage mich, warum sich bei uns niemand auf öffentliche Plätze setzt, nach Art der Toilettenmänner- oder frauen, um gegen Kleingeld einen strengen Blick auf die dort abgestellten Räder zu werfen. Ja, warum eigentlich nicht?
Wolfgang Scherreiks / Fotos: wscher
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